Die Besprechung im NDR-Fernsehen

Am 12. Januar 1974 strahlte der NDR in seinem 3. Fernsehprogramm die Sendung Bücherjournal aus. Vermutlich war sie auch im Sendegebiet von Radio Bremen und SFB zu sehen. Darin ein knapp 10-minütiger Beitrag von dem heutzutage nicht ganz unbekannten Peter Urban über das Rock-Lexikon. In seiner gerade erschienenen Autobiografie erinnert sich „die deutsche Stimme des ESC“ tatsächlich daran:

Derweil hatte ich begonnen, …, Filmbeiträge zu drehen für die Büchersendung im NDR, das «Bücherjournal». Auch da war Musik Thema, ich berichtete über neue Bücher zum Thema Popmusik und über das damals neue Rock-Lexikon von Barry Graves und Siegfried-Schmidt-Joos, der zufälligerweise in der Jury gesessen hatte, die meinen Quakenbrücker Jazzern 1965 in Hannover den Sieg verwehrt hatte. Aber nicht aus später Rache, sondern aus faktischen Gründen kritisierte ich sein Werk: zu viel Klatsch und Tratsch, fehlende Erwähnung wichtiger Künstler wie J.J. Cale, Gladys Knight, der Staple Singers, Junior Walker oder der Blues-Ikone Robert Johnson, dazu andere Mängel. Damit konfrontierte ich ihn im Interview, für das ich das Onkel Pö als Drehort ausgesucht hatte. Siegfried «Sigi» Schmidt-Joos, damals Kulturredakteur beim SPIEGEL, war mir nur kurz böse. (aus: Urban, Peter: On Air: Erinnerungen an mein Leben mit der Musik. Hamburg: Rowohlt 2023, S. 206-207)

Neugierig, warum Siegfried-Schmidt-Joos böse war (wenn auch nur kurz)? Im folgenden können Sie den gesamten Text des TV-Beitrages nachlesen. Für ihn wurden (wie von Peter Urban erwähnt), die Autoren zu Interviews eingeladen. Diese fanden aber an verschiedenen Locations statt. Während Schmidt-Joos im Hamburger Onkel Pö saß, befindet sich Barry Graves bei seinem Interview in einem Plattenladen – sitzend mit Jacke und Schal an der Theke (an der man wohl in die Schallplatten reinhören konnte).

Rockmusik ist seit Mitte der 50er Jahre die wichtigste Ausdrucksform einer Kultur, die sich an Gefühlen, Erfahrungen und Bedürfnissen von Millionen Jugendlicher orientiert.

Wie Rockmusik auch auftrat, direkt und ungestüm oder als seichte Konfektionsware und hochgespielter Modeartikel, immer wurde sie von einer internationalen Musikindustrie als Geschäft betrieben, von Elvis Presley bis zu den Rolling Stones. Als in den 70er Jahren keine entscheidend neuen Impulse die Rockmusik belebten, erschloss man einen neuen alten Markt: die Rockgeschichte. Alte Aufnahmen werden ohne Investitionen als Neuherausgaben kommerziell ausgewertet. Dazu sollen Bücher wie Nik Cohns „AWopBopaLooBop – ALopBamBoom“ und eine Serie wie „Rock Dreams“ das legitime historische Interesse an Rockmusik befriedigen. Nicht zufällig ist das erste umfassendere Nachschlagewerk der Rockmusik in Zusammenarbeit mit der Schallplattenindustrie entstanden: Das Rock-Lexikon. Die Autoren: Siegfried Schmidt-Joos, Redakteur beim SPIEGEL, und Barry Graves, Rockkritiker der WELT. Was will das Rock-Lexikon? Ist es eine Geschichte der Rockmusik oder eher ein Handbuch für den Schallplattenmarkt?

[SSJ] Weder das eine noch das andere. Wenn wir eine Rockgeschichte hätten schreiben wollen, hätten wir es auch in Form einer Geschichte, in historischer Abfolge der Stile angelegt. Noch das andere: Hätten wir ein Handbuch für den Schallplattenmarkt schreiben wollen, hätten wir sicher sehr viel mehr Diskographien hinein getan und hätten die Diskografien weiter aufgesplittert, als wir das getan haben. Was wir wollten, ist wirklich ein Rocklexikon, nämlich ein Nachschlagwerk über die wichtigsten oder bedeutendsten, wie wir finden, Rockgruppen, über die es am Markt keine kompakten Informationen gibt – nach ihren Geburtsdaten, ihren Diskographien und dergleichen.

Kern des Buches: Fast 400 Biographien von Musikern und Gruppen. Beispiele: Bluesmusiker wie Big Mama Thornton. Rock’n’Roll-Sänger wie Chuck Berry. Bob Dylan, der Folk, Blues und Rock-Ursprünge mit poetischen Texten verschmolz.

[BG] Zunächst einmal sollten die Biografien alle wesentlichen Lebensdaten der Musiker enthalten, die wichtigen Karrierestationen. Und dann ein Hinweis möglichst gleich zu Anfang: Warum dieser jener Musiker für die Rockmusik wichtig war oder nicht wichtig war oder sich wichtig nahm.

Leider sind einige der Biografien nicht ohne Mängel. Unter Joe Cocker liest man viel Anekdotisches und zynischen Klatsch wie: „Zumeist betrunken zappelte er mit eingeknickten Knien und zerspreizten Fingern über die Bühne, zerrte sich nervös an den Haaren, gestikulierte unrhythmisch und hechelte jeden Song, als wäre er sein letzter.“ Und dabei kommt die Ausdruckskraft und Intensität von Popmusik zu kurz.

[BG (schwer verständlich)] Time Magazine hat geschrieben, dass die Rockmusik, das Rock-Imperium, das Hollywood der 70er Jahre ist. Natürlich bedienen sich solche Hollywood-Stars viel mehr Legenden und Hofberichten. Und der Klatsch ist ein wesentliches Element ihrer Lebensführung, ihres Star- und Musikerdaseins. Oft waren solche Sachen sehr erhellend für den Betrachter, für das Leben, das sie führen.

Klatsch und Tratsch dienen wohl kaum einem besseren Verständnis von Rockmusik. Was soll zum Beispiel im Artikel über Santana die Information, dass in Philadelphia 20000 Fans von der Band begeistert waren, während sich in einer anderen Stadt 17000 Zuschauer auf den Rasen legten und vor sich hinstarrten?

Niemand kann von einem Rocklexikon Vollständigkeit erwarten. Wenn aber unbedeutenden Gruppen, wie der deutschen Tangerine Dream, lange Artikel gewidmet sind, muss man das Fehlen wichtiger Namen beklagen. Zum Beispiel der Gospel-Soul-Gruppe Staples Singers. Es fehlt die Soulsängerin Gladys Knight. Unerwähnt auch der Saxophonist Junior Walker.

Leider haben sich auch bei mehreren Daten, Namen und Schallplattenhinweisen Fehler eingeschlichen. So vermisst man John Lennons erste Solo-LP nach der Auflösung der Beatles 1970.

Das Literaturverzeichnis ist unpraktikabel, da unkommentiert. Zudem fehlt das wichtigste Buch über Bob Dylan von Anthony Scaduto. Auch im Sachwortverzeichnis sind die Akzente problematisch verteilt. Breit werden Erscheinungen wie Jesus People und LSD erklärt. Während grundlegende Begriffe wie Blues und Soul zu kurz abgetan werden. Über die gesellschaftliche Bedeutung der Musik der Schwarzen in Nordamerika erfährt man wenig. Zu kritisieren ist auch die Einführung. Sie stellt die Rockentwicklung zu vereinfacht dar. Wo bleibt zum Beispiel die dauernde Beeinflussung durch Blues und Soul auch bei Folk Rock-Musikern wie Stephen Stills?

Anstelle von Fotos enthält das Rocklexikon einen Reklameteil, in dem sechzig alte LPs zum vollen Preis neu angeboten werden. Warum?

[SSJ] Ich würde diesen Einlage-Teil auf Kunstdruckpapier und in sehr schönem Vierfarben-Druck nicht als Reklame-Teil, sondern eher als Service-Teil betrachten. Er ersetzt gewisserweise einen Foto-Teil, weil auf diesen Hüllen, die da abgebildet sind, ja in den meisten Fällen Musiker abgebildet sind. Es ist in diesem Buch eine solche Fülle von Schallplatten enthalten. Ich habe sie nicht gezählt, aber es sind sicher zehntausende oder mehr, die ungewertet vorgestellt werden. Ein Dschungel, in dem sich der Fan überhaupt nicht mehr zurechtfinden kann, wenn man ihm nicht gewisse Empfehlungen gibt, welches wichtig ist.

Ein wenig mehr kritische Distanz zur Schallplattenindustrie hätte sicher nicht geschadet. Das Rock-Lexikon kann, nur weil es das einzige seiner Art ist, nicht gleich als Standardwerk gelten. Es ist ein sehr nützliches Nachschlagewerk, allerdings nicht in allen Fakten und Beurteilungen verlässlich.

Ganz schön kritisch, oder? Erwähnt werden sollte unbedingt noch, dass jemand die merkwürdige Idee hatte, die Stimmen von Schmidt-Joos und Graves mit einem Echo-Hall zu verfremden. Das lässt die frei gesprochenen Aussagen, die auch mal „Ähhs“ enthalten, sehr albern klingen. Das ist auch der Grund dafür, dass die Transkription der Interviewpassagen Ungenauigkeiten enthalten können. Wie man sieht, war die Erinnerung von Peter Urban etwas getrübt. Zumindest im TV-Beitrag werden Robert Johnson und J.J. Cale nicht angesprochen. Es wäre natürlich möglich, dass dies in einem Interviewteil geschah, der im Beitrag später nicht verwendet wurde.

QUELLE: NDR | N3, Bücherjournal vom 12.1.1974