Im Wortlaut: »Zu diesem Buch«

Das Inhaltsverzeichnis der Erstausgabe des Rock-Lexikon von 1973 weist sieben Einträge aus: Im Text verwendete Abkürzungen, Vorwort, Einführung, Biographien, Sachstichwörterverzeichnis, Literaturverzeichnis, Register. Der Titelseite war noch eine Art Klappentext-Seite vorgelagert, die eine knappe Zusammenfassung des Rock-Lexikon sowie biografische Angaben über die beiden Autoren enthielt. Dieser „Zu diesem Buch“-Text lautete wie folgt:

Zwei Jahrzehnte Popmusik sind im Rock-Lexikon präsent:
aktuell und kritisch beurteilt, faktensicher und differenziert dargestellt.
Mehr als 400 stilbildende Gruppen und Solisten werden in ausführlichen Einzelartikeln porträtiert: Wann und wo wurden die Musiker geboren, wann und wo gründeten sie ihre erfolgreichen Bands? Das Rock-Lexikon nennt alle LP-Titel, zitiert die prägnantesten Kritikerurteile, verzeichnet die größten Hits und die spektakulärsten Flops. Über 5000 Musikerkarrieren sind an Hand des Personenregisters quer durch die biographischen Kapitel zu verfolgen. 200 Stilbegriffe, Fachwörter und Slangausdrücke aus der Sprache des musikalischen Underground und der Schallplattenindustrie werden im Sachwortteil erklärt.
Das Rock-Lexikon ist ein zuverlässiger Führer durch Pop-Szene und Plattenmarkt. Es skizziert die verschlungenen Wege der Blues-Barden vom Mississippi-Delta zur Wiege der Rockmusik in den schwarzen Gettos … der Gospel-Interpreten aus Negerkirchen ins Soul-Studio … der Rock ’n‘ Roll-Könige aus Vorstadtkneipen an die Spitze der Hitparaden … der Pop-Idole aus Beatkellern in Mammutstadien und auf die Bühnen der Opernhäuser von Hamburg bis New York.
Mythen und Legenden, Maschen und Manipulationen, Ideologien und Ego-Trips, Kommerzerfolge und Krisen der Rock-Stars und ihres Managements werden in einem Einleitungskapitel soziologisch, musikhistorisch und kulturkritisch untersucht.

Siegfried Schmidt-Joos, am 17. April 1936 in Gotha geboren, gehört seit Oktber 1968 der Kulturredaktion des Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» an und ist dort unter anderem für Popmusik zuständig. Er studierte in Halle/Saale und Frankfurt am Main Literaturgeschichte, Philosophie und Musikwissenschaft. 1956/57 gestaltete er die erste Jazz-Sendereihe des DDR-Fernsehens, von 1959 bis 1968 war er Musikredakteur bei Radio Bremen. In Titelgeschichten des «Spiegel», in Fernseh- und Radiosendungen hat Siegfried Schmidt-Joos Rockinterpreten vorgestellt, musikalische Trends analysiert und die Hintergründe der Rock-Szene ausgeleuchtet. Buchpublikationen: «Geschäfte mit Schlagern» (1960); «Jazz Gesicht einer Musik» (1960); «Das Musical» (1965); als Co-Autor: «Das Buch der Spirituals und Gospels Songs» (1961).
Barry Graves, am 26. Juli 1946 in White Plains, New York, geboren, betreut seit 1968 als freier Autor und Produzent für den RIAS Berlin das Programm Angebot «Progressive-Rock-Musik», seit 1970 arbeitet er als Rock-, Jazz- und Filmkorrespondent für die Tageszeitung «Die Welt». Barry Graves kam 1964 als Stipendiat nach Berlin und studierte an der Freien Universität Betriebswirtschaft, Soziologie und Publizistik. 1966/67 inszenierte er mit Studentengruppen die ersten psychedelischen Rock-Shows im deutschsprachigen Raum, 1969 lancierte er für den RIAS mit «Zero Cool» und «Brainstorm» die bislang einzigen Radioserien, die multimedial Avantgarde-Literatur, Rock, Sound-Effekte und elektronische Manipulationen verbanden.

Für den unbedarften Besucher dieser Webseite sind einige Erläuterungen zu den biografischen Angaben im Rock-Lexikon über Barry Graves wichtig. Entscheidend ist, ob man Barry Graves als Künstlernamen oder „Alter Ego“ begreift. Letzteres macht es einem viel einfacher, denn dann kann man alles als erfundene Vita einer Kunstfigur auffassen – mit einigen Bezügen zu ihrem Erschaffer. Dieser Jürgen Deutschmann kam 1964 nach Berlin zum Studieren. Allerdings nicht aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern dem weniger glamourösen Oer-Erkenschwick, um die Ecke von Recklinghausen. Jürgen Deutschmann bewarb sich noch unter diesem Namen beim RIAS und startete seine ersten journalistischen Schritte bei der Zeitung „Der Abend“. In ihr wurde am 15.1.1969 zum ersten Mal der Name Barry Graves unter die bis dahin von Deutschmann betreute Kolumne „Plattentüte“ gedruckt. Keine zwei Wochen später begrüßte ein gut gelaunter Barry Graves die RIAS-Hörer einer neuen Sendung namens „Zero Cool“. Jürgen Deutschmann war damit für immer von der Bildfläche verschwunden. Bis zu dem Zeitpunkt, als er seine Vita für das Rock-Lexikon abliefern musste, bestand ausreichend Gelegenheit, die Person Barry Graves biografisch auszuschmücken. Der genannte Geburtsort, das Stipendium, die Rock-Shows mit Studentengruppen, die Studienfächer – ausgedacht oder heutzutage unbelegbar. Selbst das Geburtsjahr haben Deutschmann und Graves nicht gemeinsam, letzterer gab sich vier Jahre jünger aus. Vielleicht war er auch nicht offiziell Zeitungs-„Korrespondent“, aber das klang natürlich eindrucksvoll. Die Sendereihen „Zero Cool“ und „Brainstorm“ wurden tatsächlich ausgestrahlt, letztere allerdings nur sehr kurze Zeit, sie wurde im April 1971 ersetzt durch „Die Barry Graves Show“. Eine Radiosendung, die den eigenen Namen trägt, damit hatte man es wohl geschafft. Der Name Deutschmann sollte erst 25 Jahre später wieder auftauchen – in der Todesanzeige des Barry Graves.