Im damals zweiwöchentlich erscheinenden Fachmagazin Der Musikmarkt tauchte das Rock-Lexikon Ende 1973 gleich dreimal auf. In Ausgabe 21/1973 war ein langes Interview mit Siegfried Schmidt-Joos zu lesen. Es trug als Überschrift das Zitat „Rock war von Anfang an kommerzielle Musik“ und als Subheadline: „Ein MUSIKMARKT-Exklusiv-Interview mit Siegfried Schmidt-Joos, dem Autor des neuen Rock-Lexikons“.
Vorauslob im „Stern“, Vorabdrucke in der „Welt am Sonntag“ und in „Poster Press“, ein amerikanischer Verlagsvertrag, noch bevor das „Rock-Lexikon“ überhaupt in Deutschland erschienen ist … Herr Schmidt-Joos, ist Ihnen bei dieser Publicity nicht ein wenig bange? Fürchten Sie nicht etwa, daß der Leser enttäuscht sein könnte?
Dieses Risiko ist bei jeder Buchpublikation drin. Aber natürlich haben die Kollegen, die das Buch bis jetzt öffentlich beurteilt haben, zumindest das Manuskript auch gelesen. Ihr Enthusiasmus kann zweierlei Ursache haben: Entweder sie finden unsere Arbeit unabhängig vom notorischen Informationsmangel auf dem Popmusik-Sektor gut, oder aber sie mögen sagen: Was der Rowohlt-Verlag hier anbietet, ist immer noch besser als die anderen Rockbücher, die es bisher gab.
Was gab es?
Reden wir mal nicht von den Meinungsbüchern über Rockmusik wie Helmut Salzingers „Rock Power“ im Fischer-Verlag (übrigens das einzige in Deutschland geschriebene Buch dieser Art, das ich lesenswert finde). Reden wir von den Enzyklopädien. Da gab es Lillian Roxons „Rock Encyclopaedia“ 1968 in Amerika, der wir manche Information verdanken, die aber keine exakten Daten anbot. Zweitens erschien 1970 in Holland ein „Pop Handboek“, das lediglich die bis dahin erschienenen LPs von nicht mehr als sechzig Gruppen verzeichnete und in der Beschreibung dieser Gruppen eher dürftig war. Drittens gab es in England das 1971 erschienene „A – Z of Rock ’n‘ Roll“ von Graham Wood, das aber keine Diskographien enthielt und sich auf astreine Rock-’n‘-Roller beschränkte. Dann ist international auch schon Feierabend.
Woran liegt es Ihrer Meinung nach, daß dieses faszinierende Thema Rockmusik (fast die Hälfte der in der westlichen Welt veröffentlichten Schallplatten enthält heute Rock) bis jetzt noch keine kompetenten Chronisten gefunden hat?
An den Schwierigkeiten der Recherche.
Das sollten Sie vielleicht noch ein wenig genauer erläutern.
Ich will das tun, indem ich unsere eigene Recherche erzähle. Erstens: Barry Graves und ich haben seit Jahren unsere privaten Archive gut sortiert. Dafür wurden die Pressematerialien der deutschen, englischen und amerikanischen Plattenfirmen, so gut wie alle Fan- und Fachzeitschriften und eine Menge Tages- und Wochenblätter ausgewertet. Als wir diese Archive durchsahen, stellten wir fest, daß wir bei nicht einmal hundert von den fünfhundert Solisten und Gruppen, die wir beschreiben wollten. exakte Daten hatten. Dann haben wir – zweitens – einen Fragebogen an die Plattenfirmen verschickt. Daraufhin bekamen wir. aus Deutschland, England und den USA ungefähr weitere 150 Informationen, die wir brauchten. Den Rest mußten wir in mühsamer Kleinarbeit in Gesprächen und Telefonaten mit Agenturen, Musikern und Firmen selber ermitteln und das war zeitraubend und kostspielig genug. Hätten wir nicht Mitarbeiterinnen in London, Paris, New York und Los Angeles gehabt, wäre es überhaupt nicht zu schaffen gewesen.
Inwieweit haben Sie das selbstgesteckte Ziel erreicht?
Von den rund vierhundert Musiker- und Gruppen-Bios, die im Buch enthalten sind, fehlen nur bei etwa zehn oder fünfzehn die exakten Daten; da mußten wir uns mit dem Geburtsjahr begnügen. Ich finde, das ist ein sehr akzeptables Ergebnis.
Und wer garantiert Ihnen, daß die Daten und Diskographien, die Sie publizieren, auch alle richtig sind?
Niemand. Wir waren auf die Angaben angewiesen, die uns Musiker, Agenturen und Plattenfirmen gegeben haben. Wenn die falsch waren, sind wir ins Messer gelaufen. Aber wir haben natürlich Sicherungen eingebaut. Zum Beispiel hat der schweizerische Musikjournalist Bernie Sigg, der über eines der größten Popmusik-Archive in Europa verfügt, alle unsere Daten noch einmal überprüft und rund zweitausend diskographische Angaben ergänzt. Siegfried E. Loch, Deutschland-Direktor des US-Plattenkombinats Warner/Elektra/Atlantic, hat unseren Sach-Stichwort-Teil verifiziert. Ich glaube sicher, daß wir auf diese Weise selbst bei einem Annäherungswert von 95 Prozent immer noch konkurrenzlos sind. Im übrigen sind alle Fans und Fachleute aufgerufen, unsere uns möglicherweise unterlaufenen geringen Fehler für künftige Auflagen des Buches zu korrigieren.
Man kennt Sie, Herr Schmidt-Joos, als Autor von Büchern, Fernsehsendung und Rundfunkbeiträgen über Jazz und Popmusik sowie als durchaus nicht immer bequemen Show-Business-Redakteur des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Wer ist Ihr Partner Barry Graves?
Ich bedaure, daß Barry Graves bei diesem Interview nicht dabeisein kann — er ist im Augenblick in Amerika. Graves stammt aus White Plains im Staat New York; er lebt seit 1964 in Berlin, wohin er als Universitätsstipendiat kam, betreut beim RIAS seit langem die Rockprogramme und arbeitet seit 1970 als Film-, Entertainment- und Popmusik-Korrespondent für „Die Welt“. Wir haben uns für dieses Buch zusammengetan, weil Barry Graves den gleichen Informationsstand und den gleichen kritischen Ansatz hat wie ich.
Was heißt kritischer Ansatz? Bedeutet das, daß wieder einmal auf die Schallplattenindustrie eingedroschen wird?
Wir kritisieren Manager, Producer, Firmen und Musiker jeweils im Einzelfall dort, wo wir glauben, daß sie Mist gemacht haben. Das heißt: Wir kritisieren die Auswüchse des Rock-Business. Von einer Pauschalverdammung der Industrie, wie sie besonders in Deutschland durch die Ideologisierung eines Teils der Popmusik-Kritik Mode geworden ist, kann bei uns keine Rede sein. Rock war von Anfang an eine kommerzielle Musik. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, war es immer das primäre Ziel der Musiker, möglichst viele Platten zu verkaufen. Deshalb ist eine Rock-Szene ohne Plattenfirmen nicht vorstellbar. Einzelne Gesellschaften wie Atlantic, Elektra, Motown oder Stax, um nur sie zu nennen, haben darüber hinaus durch ihre Repertoirepolitik und durch ihre Produktionen ebenso kreative, stilbildende Beiträge zur Rockentwicklung geleistet wie die Musiker.
Sie haben nun parallel zum Buch eine 60 LPs umfassende Serie zusammengestellt, die den Anspruch erhebt, die wichtigsten Alben aus fast zwei Jahrzehnten Rockentwicklung zu vereinigen. Nach welchen Gesichtspunkten sind Sie dabei vorgegangen?
Im „Rock-Lexikon“ werden weit über 5000 Langspielplatten beschrieben oder erwähnt. In diesem Dschungel kann sich kein Leser mehr zurechtfinden, wenn man ihm nicht Wegweiser und Orientierungsmarken gibt. Darüber hinaus fiel mir beim Schreiben auf, daß viele Meilenstein-LPs in der Bundesrepublik nicht oder nicht mehr greifbar waren. Deshalb bin ich an sechs Firmen, die gemeinsam wenigstens vier Fünftel des nennenswerten Rock-Repertoires von 1954 bis 1970 repräsentieren, mit der Bitte herangetreten, mit mir gemeinsam diese Edition zu versuchen. Es sind dies Bellaphon, CBS, Electra. Polydor, Teldec und WEA.
Eine solche Gemeinschaftsdokumentation eines Musizierstils hat es bislang auf der ganzen Welt noch nicht gegeben. Wie haben Sie denn diese sechs Firmen alle unter einen Hut gekriegt?
Meine Gesprächspartner heben sehr schnell verstanden, daß die Chance einer solchen Serie allein in einer möglichst unangreifbaren Zusammenstellung und eben in ihrem Gemeinschafts-Charakter liegt. Deshalb haben sie das sonst übliche Konkurrenzdenken dabei hintangestellt und mit sehr viel Goodwill an der Auswahl mitgewirkt. Aber noch mal zurück zu Ihrer Feststellung, die wichtigsten Alben der Rockgeschichte seien hier versammelt. Natürlich gibt es viel mehr wichtige Platten, die nicht in der Serie vorhanden sind. Was wir wollten, war lediglich, dem Fan eine gut sortierte Grundstock-Diskothek an die Hand zu geben und jeden wesentlichen Rockstil mit je fünf unbestreitbaren Höhepunkten möglichst optimal zu dokumentieren.
Auf welche Art von Material haben Sie dabei zurückgegriffen?
Klar war, daß erstens solche All-Time-Klassiker wie „Sgt. Pepper“ von den Beatles oder „Get Yer Ya-Ya’s Out“ von den Stones in eine solche Serie hineingehören — unabhängig davon, ob sie noch am Markt greifbar waren oder nicht. Zweitens sollten Platten für den Käufer erhalten bleiben, die aufgrund ihres weit zurückliegenden Erscheinungsdatums in der Gefahr waren, gestrichen zu werden, etwa „Stand!“ von Sly And The Family Stone. Drittens kommen Platten wieder heraus, die bereits aus den Katalogen verschwunden waren — wie B. B. Kings „Blues Is King“ oder die erste überhaupt produzierte Jazz-Rock-LP „Out Of Sight And Sound“ von Larry Coryells Free Spirits aus dem Jahr 1967. Viertens haben wir in einzelnen Fällen, wo es keine für den Künstler repräsentativen Alben in dieser Preisklasse gab, neue Koppelungen vorgenommen: „The Best Of Buffalo Springfield“, „Buddy Holly/Portrait In Music“, „The Animals: House Of The Rising Sun“ oder „Muddy Waters: Hoochie Coocbie Man“.
Auf welche Weise kommen diese sechzig Platten denn nun in den Handel?
Die sechs Firmen haben an der Serie unterschiedlich große Anteile. WEA führt mit dreizehn Titeln, Bellaphon hat mit sieben den geringsten Anteil. Jedes Haus bringt seine LPs über den eigenen Vertrieb in den Handel, so daß der einzelne Händler die Serie, wenn er komplett sortiert sein will, getrennt einkaufen und dann im Laden zusammenstellen muß. Die Platten haben alle ihr altes Original-Cover behalten; der Seriencharakter wird durch eine Plastik-Außenhülle mit der Aufschrift „Rock-Lexikon“ deutlich gemacht. Jede Platte kostet einheitlich 22 Mark, gleichgültig, ob es eine einfache LP, ein Doppelalbum oder – wie im Falle des Festival-Mitschnitts „Music From Woodstock“ – sogar eine Dreier-Kassette ist.
War es nicht möglich, bei Abnahme der ganzen Serie einen Subskriptionspreis anzubieten?
Das ging aus zwei Gründen nicht. Einmal steht in manchen Künstlerverträgen mit den Firmen, zum Beispiel bei Led Zeppelin, daß deren LPs niemals preislich heruntergestuft werden dürfen. Zum anderen hätte ein Subskriptionspreis bei den unterschiedlichen Anteilen der einzelnen Firmen ein Verrechnungs-Kuddelmuddel gegeben, das keine Buchhaltung hätte auffangen können. Es ist aber denkbar, daß ein Händler einem Kunden, der alle 60 Alben bei ihm kauft, einen eigenen Sonderpreis machen wird.
Mittig in das Interview waren Fotos von Schmidt-Joos und Graves sowie ein kursiv gedruckter Erklärtext gesetzt:
Am 1. Dezember erscheint im Rowohlt-Verlag das „Rock-Lexikon“ von Siegfried Schmidt-Joos und Barry Graves zum Preis von 7,80 Mark: 352 Seiten mit rund 400 Solisten- und Gruppenporträts, 200 Erläuterungen von Sach-Stichwörtern wie Stilbegriffe, Fachtermini und Plattenfirmen, einem umfangreichen Einleitungskapitel zum Thema „Was ist Rock?“ sowie einem Literatur- und Zeitschriftenverzeichnis. Mehr als 5000 Musikernamen werden im Register genannt. Zu diesem Buch, das Anfang 1974 auch beim New Yorker Verlag Avon Publishers herauskommen wird, veröffentlichen sechs deutsche Schallplattenfirmen eine 60 LPs umfassende Serie mit Rock-Meilensteinen aus zwei Jahrzehnten. MUSIKMARKT sprach darüber ausführlich mit dem Autor Siegfried Schmidt-Joos.
In der folgenden Ausgabe 22/1973 wurden die vollständige Liste der 60 LPs abgedruckt unter der Überschrift Die ersten Rock-Lexikon-Platten sind schon zu haben! Die Subheadline lautete: „60 LPs wurden von Bellaphon, CBS, DG, EMI und Teldec in einer Gemeinschaftsaktion zum Teil neu veröffentlicht“. Den Plattentiteln war dieser einführende Absatz vorangestellt:
In Ausgabe 24/1973 wurde dann noch folgender Leserbrief von Siegfried Schmidt-Joos abgedruckt:
QUELLEN: Der Musikmarkt 21/1973, S. 10-12; 22/1973, S. 11; 24/1973; S. 22