Am 2. Februar 2025 verstarb der Musikjournalist Siegfried Schmidt-Joos. Eines der letzten Interviews mit ihm führte Thomas Kraft für sein 2022 erschienenes Buch „The Last DJs – Wie die Musik ins Radio kam“. Herzlichen Dank an Thomas Kraft und seinen Verleger Manfred Rothenberger für die freundliche Erlaubnis, das interessante Interview hier wiedergeben zu dürfen.
IT MUST SCHWING
Thomas Kraft befragt Siegfried Schmidt-Joos*
Sie wurden 1936 in Gotha, kurz vor Kriegsbeginn, geboren. Haben Ihre Eltern Sie in irgendeiner Form musikalisch beeinflusst?
Bei uns gab es Hausmusik. Meine Mutter wollte mich zu einer Art Mozart machen und hat mich frühzeitig vor die Alternative gestellt: Geige oder Klavier. Das Klavier war mir zu unheimlich, zu groß und zu schwarz. Ich habe mich dann für eine Dreiviertel-Geige entschieden. Zum Unterricht aber ging ich nur ungern und spielte lieber draußen. 1945 fand ich im Garten eine von deutschen Landsern weggeworfene Panzerfaust und versuchte, sie abzuschießen. Dabei verletzte ich mich schwer. Ich habe also keine rechte Hand und keinen linken Daumen mehr, und eine Peroneus-Lähmung im rechten Bein. Von da an konnte ich keine Musik mehr machen und fand das durchaus entlastend.
Wie stark war der Einfluss durch das Radio?
Mit 13 Jahren habe ich auf AFN die legendäre Sendung »Blues for Monday« von Günter Boas gehört und wurde davon überwältigt. Kurz darauf, im Januar 1951, hörte ich im Südwestfunk Benny Goodmans auf US-Columbia erstmals veröffentlichtes The Famous 1938 Carnegie Hall Jazz Concert mit dem fulminanten Drum-Solo von Gene Krupa und dachte bei dieser Gelegenheit, ich wäre gerne Schlagzeuger geworden. Das konnte ich aber nun nicht mehr und musste mir überlegen, wie ich einen Beruf finde, der mich in die Nähe dieser Musik bringt. Ich hatte den »Swing-Bazillus« eingeatmet und entschied mich, über Musik zu schreiben oder diese im Radio vorzustellen. Damals jedoch war Jazz im Rundfunk der DDR komplett verboten, daher spielte der AFN für mich als Schüler eine große Rolle. Als Student an der Universität Halle-Wittenberg, wo ich Germanistik im Hauptfach und Philosophie und Musikwissenschaft im Nebenfach studierte, konnte ich AFN aber nur sehr schwer empfangen. Daneben hörte ich von Anfang an viele Jazz-Sendungen, die in den westdeutschen Stationen meist spät in der Nacht liefen: im Südwestfunk Joachim-Ernst Berendt, im Hessischen Rundfunk Olaf Hudtwalcker und Horst Lippmann, aus München Werner Götze, und aus Köln Dietrich Schulz-Köhn. Während meiner Zeit an der Oberschule und später an der Universität begann ich, Jazz-Konzerte zu organisieren. 1955 gründete ich mit einigen Kommilitonen die »arbeitsgemeinschaft jazz halle«. Dieser Jazzclub existierte drei Jahre, dann verließ ich 1957 aus politischen Gründen die DDR und studierte nach sechs Semestern in Halle an der Saale noch einmal zwei Semester Kulturwissenschaften bei Adorno, Horkheimer und Carlo Schmid in Frankfurt am Main.
Sie haben Germanistik studiert. War es für Sie auch eine Option, in dieses Berufsfeld zu gehen?
Das war – nach Schlagzeuger – tatsächlich mein zweiter Berufswunsch. Ich habe immer gerne gelesen, und zwar im großen Stil. Als Teenager verschlang ich die damals veröffentlichten 65 Bände von Karl May und die Zukunftsromane von Hans Dominik. An der Universität wurde die Beschäftigung mit Büchern professionell. Ich wollte Rundfunkjournalist und Schriftsteller werden. Am Ende sind Musik und Literatur dann ja auch zusammengekommen.
Nachdem Sie im Westen waren, arbeiteten Sie neben dem Studium bereits als Musikjournalist. Wie entstand der Kontakt zum Jazz-Magazin Schlagzeug?
Ich lernte im Frankfurter Jazzkeller, wo ich beinahe jeden Abend verbrachte, Fritz Rau kennen, der aus Heidelberg kam und Mitbegründer des Jazzkellers Cave 54 war. Er wurde von Horst Lippmann von der Deutschen Jazz Föderation engagiert, das sogenannte »Konzertreferat Inland« zu führen. Daraufhin bot mir Fritz Rau an, als Tourneeleiter deutsche Jazzbands zu begleiten. Also ging ich dann mit den Frankfurt Allstars, dem Michael Naura Quintett, der Helmut Brandt Combo und anderen auf Deutschland-Tournee. Bei einem Konzert der Helmut Brandt Combo in Berlin kam eine Journalistin auf mich zu, die mich für das Magazin Schlagzeug interviewen wollte. Mit dem Belegexemplar der Zeitschrift kam eine Anfrage des Verlegers Karl-Heinz Marbach, ob ich nicht nach Berlin kommen und für das Blatt arbeiten wolle. Schlagzeug war eines der vom amerikanischen Geheimdienst CIA finanzierten Magazine, die in die DDR geschickt wurden, um dort amerikanische Kultur und Lebensart zu verbreiten. Seine Redaktion bestand aus exzellenten Journalisten, die aber zu wenig vom Jazz verstanden, um bei der Schlussredaktion nicht auch mal Fehler zu machen. Deshalb wurde ich angeheuert, verbrachte nun jeden Monat eine Woche in West-Berlin und schrieb auch Artikel für das Blatt.
Sie erwähnten, dass Sie vom Swing-Bazillus infiziert wurden. Welches Verständnis vom Jazz haben Sie daraufhin entwickelt?
Ich interessierte mich von Anfang an nicht nur als Fan für den Jazz, sondern studierte auch ernsthaft seine Geschichte. Als ich im Alter von 14 zum ersten Mal zu Verwandten nach Heidelberg fahren durfte, stahl ich im dortigen Amerikahaus das Buch Jazz – From the Congo to the Metropolitan von Robert Goffin, nachdem ich mehrere Tage darum herumgeschlichen war und mit meiner moralischen Erziehung gekämpft hatte. Mein zweites Buch hieß Jazz. A People’s Music von Sidney Walter Finkelstein und wurde eine wesentliche Arbeitsgrundlage für unsere Publikationen in der DDR. Mein Mentor war damals der ehemalige Marxismus-Dozent Reginald Rudorf in Leipzig, der sich zum freiberuflichen Musikpublizisten gemausert hatte. Ab Herbst 1956 konnte ich mehrere Fernsehsendungen mit DDR-Amateurbands aus Halle und Jena realisieren, »Stelldichein der Synkopen«, die erste Jazz-Sendung der DDR und zugleich mein Einstieg in die Medien. Von nun an war ich auf meinem Berufsweg.
Wie haben Sie den Rock ’n’ Roll der 1950er-Jahre wahrgenommen und welche Rolle spielte dabei der AFN?
Als Rock Around the Clock erschien, habe ich das nicht als Alternative zum Jazz, sondern eher als Ablenkung von ihm wahrgenommen. Aber ich war nicht gegen Rock ’n’ Roll, sondern empfand vor allem Rhythm & Blues wie in Earl Bostics Flamingo als sehr bereichernd. In den 1960er-Jahren schrieb ich viel über Blues – vor allem über den englischen Blues mit Alexis Korner und die frühen Rolling Stones. Als ich 1964 eine sechswöchige Amerika-Reise absolvierte, die mich auch nach Memphis und Chicago führte, stand der Blues im Vordergrund meines Interesses, egal, ob er von schwarzen oder von weißen Musikern gespielt wurde.
Wie haben Sie auf dieser Reise das amerikanische Radio wahrgenommen?
In Memphis besuchte ich die rein schwarze Radiostation WDIA und interviewte die Entertainer, die ihrem schwarzen Publikum in den Fifties als erste Elvis Presleys »Sun«-Singles präsentiert hatten. In Chicago war ich wiederholt bei WFMT in der »coast to coast« ausgestrahlten Sendung »Wax Museum« von Studs Terkel zu Gast. Er gilt als Erfinder der »Oral History« und hat meinen Interviewstil sehr beeinflusst. Die Rundfunkstationen in Amerika waren stilistisch klar festgelegt, entweder auf Mainstream, auf Country, Gospel oder Rhythm & Blues. Eine Sendung musste eine einheitliche stilistische Ausprägung haben. Das konnten wir bei unserem Rundfunksystem in der ARD nicht verwirklichen. Quer durch den Garten, wie es die Tanzmusik-Programme im deutschen Radio vorsahen, haben wir unsere Jazzsendungen aber nie aufgefasst.
Sie haben bei Radio Bremen kollegial mit anderen Sendern zusammengearbeitet. Andererseits hatten Sie eine öffentlich ausgetragene Kontroverse mit Joachim-Ernst Berendt vom Südwestfunk. Wie war Ihr Verhältnis?
Als ich 1958 bereits in Westdeutschland war, bat mich der deutsche Jazz-Papst Joachim-Ernst Berendt, eine zu lang geratene Neuauflage seines für uns alle fundamentalen Grundlagenwerks Das Jazzbuch – Von New Orleans bis ins 21. Jahrhundert im Fischer-Taschenbuchverlag um 90 Seiten zu kürzen. Da ich mit Berendt auch einen inhaltlichen Dialog führte, merkte er, dass ich auch eigenes Wissen einbringen konnte.
Als mich 1959 der ehemalige Fischer-Cheflektor und neue Programmdirektor von Radio Bremen als Redakteur zu diesem Sender mitnahm, tauschte ich in der Folge mit Berendt immer wieder Programme aus. So gab es bei Radio Bremen eine wöchentliche Sendung, die wie Schulfunk angelegt war, das »Jazz Studio«. Die anderen Sendungen waren entweder Konzertmitschnitte oder Präsentationen von Neuerscheinungen. Der Südwestfunk in Baden-Baden hatte für Jazz eine vergleichbare Programmstruktur. Joachim-Ernst Berendt und ich arbeiteten vielfach zusammen. 1960 übernahm ich zudem die Redaktion der von ihm seit 1948 redaktionell betreuten Seiten »jazz-echo« im Gondel-Magazin. Wie Sie richtig bemerken, lieferten sich Berendt und ich uns ab 1965 aber auch eine in Medien wie Der Spiegel geführte Kontroverse über die angebliche Unvereinbarkeit von Jazz und Pop.
Sie haben in vielen verschiedenen Medien gearbeitet. Welchem gilt Ihr Herzblut?
Gegenüber dem Film und dem Fernsehen habe ich immer dem Rundfunk den Vorzug gegeben, denn dort entstehen ganz persönliche Bilder im Kopf. Durch die passende Musik erreicht man den Hörer auch auf einer emotionalen Ebene. Nur Schallplatten abzuspielen, wäre mir aber zu wenig gewesen. Die Vermittlung von Wissen stand bei mir immer im Vordergrund.
Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihnen ein DJ wie Wolfman Jack eher fremd geblieben ist?
Ich wiederhole: Ich war kein DJ. Wir hatten beim RIAS DJs, die sich als Kunstfiguren stilisierten, die besonders in der DDR eine sehr große Fangemeinde hatten und die ich als Abteilungsleiter protegierte. Sie haben gewiss zur Veränderung unserer Radiokultur beigetragen. Barry Graves zum Beispiel – der eigentlich Hans Jürgen Deutschmann hieß und aus Jeßnitz in Anhalt stammte – experimentierte in seinen langen Nachtsendungen »Studio 89« oder »Graves bei Nacht« mit gewagten Musik-Kombinationen, elektronischen Übergängen und Verfremdungen. Damit waren wir teilweise avantgardistischer als die Amerikaner. Dennis King wurde unter dem Namen Dennis James Manz in Irland oder mit dem Nachnamen Koning in Holland geboren, wer weiß? King lernte den Job auf den Piratenschiffen Radio Victoria und Radio Caroline außerhalb der britischen Hoheitsgewässer. Er war ein begabter Radio-Comedian, wurde im Netz als »Blödelbarde mit Köpfchen« bezeichnet und kam beim RIAS Wolfman Jack wohl am nächsten.
Ich selbst habe mich, wie gesagt, immer als Rundfunkjournalist empfunden und war stets zuerst an der Vermittlung von Informationen interessiert – natürlich vor allem über Musik. In den »Langen Nächten« des RIAS in den 1980er-Jahren haben meine Partnerin Kathrin Brigl und ich alle wesentlichen deutschen Liedermacher live im Studio vorgestellt. Konstantin Wecker bekannte sich bei uns erstmals zu seiner Kokainsucht, worüber das Berliner Boulevardblatt B.Z. dann ausführlich berichtete. Als wir in dieser eiskalten Winternacht nach 3.00 Uhr morgens das Sendergebäude verließen, standen immer noch um die 20 Fans vor der Tür, die von Konny Autogramme erbaten. Aus dieser Gesprächsserie sind dann unter dem Titel Selbstredend … zwei Bände Liedermacher-Porträts im Rowohlt-Verlag geworden.
Zu einer »Langen Nacht des Blues« hatte ich Alexis Korner, der einst die Stones ins Rollen brachte, und Tory Sheridan, der auf der Hamburger Reeperbahn die Beatles entdeckt hatte, eingeladen. Sie sollten erzählen, wie aus dem Geist des Blues die britische Rockmusik entstanden ist. Aber sie wollten im Studio auch spielen. Das ist dann viel später auf einer CD bei Bear Family Records erschienen. Ja, Wolfman Jack war mir eher fremd.
Was hat den Ausschlag gegeben, dass Sie sich auch für Rockmusik interessierten?
Die frühe Begeisterung für Rhythm & Blues, Ray Charles, Aretha Franklin, Etta James und all die anderen, sowie meine Begegnung mit den Bluesmusikern, beginnend mit Lippmann + Raus American Folk Blues Festivals und der Freundschaft mit Alexis Korner in den Sixties. Die intensive berufliche Beschäftigung mit Rockmusik erfolgte danach zwangsläufig, nachdem die großen US-Plattenfirmen – allen voran Columbia Records – beim Monterey Pop Festival 1967 Rock als Umsatzmotor entdeckt und Jazzrock-Bands wie Blood, Sweat & Tears und die Bluessängerin Janis Joplin unter Vertrag genommen hatten. Jazz und Rock hatten damals dieselben Wurzeln – es war für mich dieselbe Musik.
Wie kamen Sie auf die Idee eines Rocklexikons? Man könnte ja denken, dass Rockmusik ein dynamischer Prozess ist, den man gar nicht lexikalisch erfassen kann. Was war die Initialzündung?
1967 habe ich im kulturpolitischen Magazin Der Monat zum ersten Mal einen großen Artikel über die Beat-Kultur als Generation des Involvement geschrieben. Im folgenden Jahr ging ich als Kulturredakteur zum Spiegel und war dort auch für Rockmusik zuständig. Im Juni 1970 erschien meine erste Titelgeschichte zur Popmusik. Danach galt ich dafür als Experte. Ich wohnte in Reinbek und verkehrte im Rowohlt-Verlag. Die Lektoren gaben mir oft Manuskripte zur Begutachtung, in denen es um Musik ging. 1971 erhielt ich ein Exposé für ein Rock-Lexikon, das ich empfahl, aber Änderungen nahelegte. Es gab damals nichts Vergleichbares – das Rock-Lexikon war überfällig und musste schnell auf den Markt. Also wurde ich gefragt, ob ich dieses Lexikon nicht selbst schreiben wollte. Als Spiegel-Redakteur mit einem wahrhaft ausgefüllten Wochenpensum litt ich naturgemäß unter Zeitmangel und holte mir deshalb Barry Graves an die Seite, der ähnlich wie ich formulierte und über einen ähnlichen Informationsstand verfügte.
Seit den 1960er-Jahren haben Sie die Entwicklung der Rockmusik jahrzehntelang verfolgt.
Alfred Lion – der einst in Berlin geborene Gründer von Blue Note Records in New York – hat es einst auf den Nenner gebracht: »It must schwing!« Als sich die Popmusik in den 1980er-Jahren in Punk, Techno, HipHop, Neue Deutsche Welle und so weiter auflöste, ließ mich das kalt. Das swingte praktisch alles nicht mehr. Es waren natürlich legitime Ausprägungen populärer Musik, entfernte sich aber immer mehr von den Maßstäben der Musik, in der ich mich auskenne und erreichte mich emotional nicht mehr. Darüber wollte ich nicht mehr urteilen müssen, das sollten nun andere Kollegen tun.
In den letzten 15 Jahren meines Berufslebens als Abteilungsleiter im SFB (heute rbb) habe ich zusammen mit Kathrin Brigl in der wöchentlichen Zwei-Stunden-Sendung »Showtime« die großen Figuren des internationalen Entertainments porträtiert: Stars wie Donna Summer oder Tony Bennett und so gut wie alle noch lebenden prominenten Broadway-Komponisten zwischen Stephen Sondheim und Andrew Lloyd Webber wurden von mir interviewt. Außerdem gab es Berichte über die wichtigsten Musical-Uraufführungen in New York, London, Wien und den deutschen Großstädten.
Heute beschäftige ich mich wieder intensiv mit dem Jazz und seiner Geschichte. Frank Zappa hat einmal gesagt, Jazz sei nicht tot, er rieche nur schon ein bisschen komisch.
Dieser Meinung war ich nie.
* QUELLE: Thomas Kraft: The Last DJs – Wie die Musik ins Radio kam.
Herausgeber: Manfred Rothenberger. starfruit publications, Fürth 2022, S. 57–66. ISBN: 978-3-922895-52-7.