Mein ROCK-LEXIKON…

… eine ziemlich persönliche Einleitung

Ich gestehe gleich: Mein Rock-Lexikon ist und bleibt die erste zweibändige Ausgabe von 1990. Noch genau erinnere ich mich, dass ich die beiden Bücher in der, auf mich riesig wirkenden, Kiepert-Buchhandlung am Hardenbergplatz kaufte. Die knapp 30 D-Mark waren fast ein Drittel des Begrüßungsgeldes, also war der Kauf garantiert wohlüberlegt.

Nicht sicher bin ich, wann ich zuerst vom Rock-Lexikon erfuhr. Gut möglich, dass es die berühmt-berüchtigte Radiosendung war, in der sich Barry Graves in unnachahmlicher Art die Kritiker des gerade neu aufgelegten Nachschlagewerkes zur Brust nahm. Da waren weder tip-Kollegen vor einer Schelte sicher, und schon gar nicht die Pöbler, die ihn als „Pfuscher“ oder „verkalkt“ verunglimpft hatten. Der Berliner Tagesspiegel wollte anschließend sogar eine „Lexikon-Affäre“ ausgemacht haben. Bedauerlicherweise ist diese Sendung nur teilweise erhalten. Trotzdem, wie bei so vielen anderen, verdanken wir das allein den Graves-Fans, die nach seinem viel zu frühen Tod ihre bemerkenswert zahlreichen, gesammelten Mitschnitte archiviert und geteilt haben.
In den letzten Monaten blätterte ich durch dutzende anderer Lexika, die sich Pop- und Rockmusik widmen. Wird es jemanden geben, der sich zu deren 50. Jubiläen an sie erinnert? Vermutlich nicht, denn nur wenige wurden mit soviel erkennbaren Herzblut und Formulierfreude verfasst, wie DAS Rock-Lexikon. Bei „meinem“ von 1990 sind zwar die Buchrücken längst von den unvermeidlichen Leseknicken durchzogen und farblich von der Sonne ausgebleicht, aber ich staune immer noch über das „Drumherum“ zum reinen Lexikonteil. Seien es die Listen der „100 Meilenstein-CDs“, der „50 stilprägenden und genrebegründenden Videoclips“ oder der „Langform-Rock-Videos“ sowie das üppige Literaturverzeichnis.

Auch die dann folgenden gedruckten Inkarnationen des Rock-Lexikons habe ich erworben, aber wie (bei vielen) in der Liebe, ist es nie mehr ganz dasselbe wie beim ersten Mal. Trotzdem ist es ein gutes Gefühl, sie griffbereit zu wissen.

Die 1973er-Erstausgabe des Rock-Lexikons hielt ich erst über dreißig Jahre nach dem erwähnten Kiepert-Einkauf in den Händen. Mittlerweile besitze ich zwei Exemplare (ebay sei Dank).

Siegfried Schmidt-Joos hat neulich für die Tagung „Populäre Musik und Geschichte: Sammeln – Forschen – Publizieren“ des Lippmann+Rau-Musikarchivs in Eisenach einen spannenden Beitrag verfasst: »Wie das „Rock-Lexikon“ entstand«. Dank dieses – wie ich finde sehr offenen und persönlichen – Textes (auf der Webseite der Lippmann + Rau-Stiftung hier abrufbar) muss nicht spekuliert werden – wir erfahren alles Wichtige aus erster Hand.
Ein Thema bleibt dort allerdings unerwähnt: der nur in der Erstausgabe enthaltene farbige Innenteil mit sechzig konkreten Schallplatten-Empfehlungen. Parallel zum Buch veröffentlichten einige deutsche Plattenfirmen genau diese Schallplatten. Aus heutiger Sicht der Retromania-Auswüchse und Anniversary-Editionen kann man nur darüber schmunzeln, dass diese Marketing-Kooperation zwischen Buchverlag und Plattenfirmen einen größeren Wirbel verursachte. Fast sämtliche Rezensenten arbeiteten sich daran ab, dass Platten, die doch „bereits ihre Kosten eingespielt hätten“, nun zum Normalpreis erneut angeboten würden. Das wäre jugendlichen Rockfans, die sich noch in der musikalischen Kennenlernphase befänden, doch sehr ungerecht gegenüber.

Als „Rock-Lexikon-Spätgeborener“ ahnte ich lange Zeit von all dem nichts. Irgendwann stieß ich zufällig auf eine rateyourmusic.com-Liste, in der ein User namens „ukulele“ diese 60 LPs auflistete und zur Erstausgabe des Rock-Lexikons erläuterte:

Die Bedeutung dieses Buches ist heute, in Zeiten von WWW, von You Tube, Spotify & Co kaum noch zu begreifen. Das papierne Buch war damals nicht nur die erste, sondern schlicht und einfach die einzige Möglichkeit, im deutschsprachigen Raum komprimiertes Überblickswissen über populäre Musik zu bekommen. Im farbigen Mittelteil des Buches waren 60 Platten aufgelistet. Die Platten waren zum Teil kaum zu bekommen, und deren physischer Besitz war die persönliche Trophäe des erfolgreichen (natürlich männlichen) Jägers und Sammlers – nach erfolgreicher Jagd neidvoll betrachtet von den anderen Jägern und Sammlern. … Diese 60 „Langspielplatten“ sechs deutscher „Schallplattenfirmen“ sind die Basis vieler „Schallplattensammlungen“ in Deutschland. … Die Auswahl der LPs verwundert teilweise aus heutiger Sicht. Dies liegt auch daran, dass in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht sämtliche Musik immer und unmittelbar erreichbar war. Wichtige LPs waren lange Jahre vergriffen, und entwickelten sich auch und gerade dadurch zu besonderen Objekten der Jäger- und Sammler-Begierde. Heute unvorstellbar. Die Beschreibungen der Platten sind auch noch nach 45 Jahren in der Regel erstaunlich treffend. … Schön war es auf jeden Fall, wenn man das lange gesuchte Objekt der Begierde in den Händen und endlich BESESSEN hatte – Der stolze Jäger kehrte erfolgreich zurück in den Schoß seiner Schallplattensammlung.

Auch für mich war das Rock-Lexikon ein wesentlicher Impulsgeber für den Aufbau meiner Musiksammlung. Selbst wenn bald weitere (heute würde man sagen) „Influencer“ hinzukamen, den Kontrollblick ins Lexikon habe ich mir bis heute nicht abgewöhnt.

Ein Vortrag auf der erwähnten Archivtagung trug den Titel „Der lange Weg vom Sammeln zum Anstiften und von der Obsession des Einsammelns“. Ich erkenne mich da ein klitzekleines bisschen wieder und habe deshalb für diese Webseite u.a. die erwähnten Farbseiten zusammengetragen. Das war gar nicht so einfach, denn das Exemplar aus der Berliner Amerika-Gedenkbibliothek ist nicht mehr vollständig. Die fehlenden Seiten musste ich mir noch anderweitig (Danke, Christian!) abfotografieren lassen.

Als im Oktober 1975 die erweiterte Neuauflage des Rock-Lexikons erschien, war der farbige Innenteil verschwunden. Als „Ersatz“ gab es nun hinten eine Liste von 150 „Meilenstein-LPs“, die nicht mehr nach Genres, sondern Erscheinungsjahren sortiert waren. Dem Erfolg des Buches tat das keinen Abbruch. Wurden von der Erstausgabe 106.000 Exemplare gedruckt, stieg die Auflage bis Ende der 1980er Jahre auf ca. 299.000. Die letzte Ausgabe des Rock-Lexikons enthielt keine Auflagenzahlen mehr, in einem Interview mit der Zeitschrift Good Times nannte Siegfried Schmidt-Joos 2014 eine Gesamtauflage von über 550.000. Endgültig gestrichen aus dem Rowohlt-Katalog wurde das Rock-Lexikon erst 2022.
Und es gab ja nicht nur die gedruckten Bücher. Die Computerprogramme mit Rock-Lexikon-Inhalten sind zwar auf modernen PCs kaum noch zum Laufen zu bekommen, die RIAS-Radioserien nur noch mit wenigen Teilen im Archiv vorhanden. Das Kurioseste sind wohl die drei Mini-Büchlein, die ein bekannter Markenhersteller seinen Batterien beilegte (Sammler googeln nach „Varta Rocklegenden“). Ein günstiges „Full Set“ des Rock-Lexikons kann daher nur für ausdauernde Sammler ein Ziel sein. Und ich entdecke immer noch neue Dinge: So ist mir erst vor zwei Wochen aufgefallen, dass im August 2003 für nicht mal zehn Euro eine einbändige „Sonderausgabe“ der 1998er Ausgabe auf den Markt geworfen wurde. Ich höre schon wieder Kritikaster, in dieser wären nicht mal die Diskografien auf den frischesten Stand gebracht worden, ach herrlich.

Aber nochmal zurück dazu, wie die Erstausgabe des Rock-Lexikons aufgenommen wurde. Siegfried Schmidt-Joos erwähnte Klaus Kuhnke, der sie als „sinnlos“ (da ohne historisch-materialistische Darstellung) bezeichnet haben soll. Die entsprechende NDR-Radiosendung ist im Bremer Klaus-Kuhnke-Institut für Populäre Musik oder den ARD-Archiven nicht überliefert. Selbiges gilt für die Sendung des Sender Freies Berlin, die auf der Rückseite der erweiterten 1975er-Neuauflage zitiert wird. Die dort ebenfalls zitierten sechs Printmedien konnte ich den Archiven und Mikrofilmen allerdings wieder entreißen. Wie staunte ich, dass der ZEIT-Autor ein gewisser Franz Schöler (bekannt als weiterhin aktiver Musikkritiker für STEREO und Rolling Stone) war. Und noch überraschender, dass die WAZ-Kritik ebenfalls aus seiner Feder stammte. Autor der Rezension im Fachblatt Musik und Bildung ist ein hochgeachteter Musik-Professor, dessen Namen eine Ganztagsschule in Wanna trägt. Hinter „A.F.S.“ im Tagesspiegel versteckte sich aus Platzgründen wahrscheinlich Arnd F. Schirmer, den man auch als späteren SPIEGEL-Redakteur ergoogeln kann.

Alle nahezu klassischen „Kritiker-Aufreger“ sind bereits damals vertreten:

  • Übel, dass Künstler A oder Band B fehlt !!!
  • Warum ist der Eintrag von X viel länger als der von Y ???
  • Diese eine Information über Z interessiert mich überhaupt nicht, da unwichtig !!!

Berichtenswertes gibt es auch vom bundesdeutschen Fernsehen. In gleich zwei ausführlichen Beiträgen knöpfte man sich Anfang 1974 das junge Rock-Lexikon vor. „Man“ waren zwei, deren Namen auch heutzutage alles andere als unbekannt sind. Ersterer hat später selbst dicke mehrbändige Musik-Lexika veröffentlicht: Frank Laufenberg. Und Peter Urban ist sein Beitrag scheinbar immer noch unvergessen, denn in seiner kürzlich erschienenen Autobiografie entschuldigt sich „Mr. ESC“ ausdrücklich bei SSJ für seine damalige Strenge. Nicht erwähnt von ihm wird die Idee, die Stimmen von Graves und Schmidt-Joos mit einem Echo-Effekt zu verändern, so dass beide in den Interviewpassagen wie Micky Mäuse klangen.

Nicht unerwähnt bleiben sollten in einer Erinnerung an das Rock-Lexikon die anderen Beteiligten. Der Schweizer Bernie Sigg kümmerte sich in der Vorinternet-Zeit um die sicher nicht banale Aufgabe der Zusammenstellung der Diskografien. Berndt Höppner, der neben den beiden ersten Lexikon-Covern viele weitere von Rowohlt-Musik-Taschenbüchern gestaltete. Bernward Halbscheffel nahm für eine Ausgabe den Platz des verstorbenen Barry Graves ein. Die überkandidelte Pop-Welt war wohl nie Halbscheffels Sache, mittlerweile hat er seinen eigenen Verlag dichtgemacht, auf dessen Webseite man bis zum Schluss noch seine umfangreichen Fachbücher (z.B. über die „Canterbury Scene“ oder Rockmusiker, die von der Musik Johann Sebastian Bachs fasziniert sind) kostenlos herunterladen konnte. Wolf Kampmann schließlich hat das Rock-Lexikon erfolgreich ins jetzige Jahrtausend geführt und sorgt hoffentlich noch einige Zeit mit dafür, dass der deutschsprachige Musikjournalismus nicht komplett unter die Räder gerät.

Bleiben die beiden „Väter“ des Rock-Lexikon. Wolfgang Müller, der die nicht so schlechte Idee hatte, den bis heute unermüdlichen Siegfried Schmidt-Joos zu fragen. Und dieser, als er Barry Graves als potentiellen Co-Autoren ins Auge fasste. Wie das wirklich klappte, kann ich immer noch nicht so richtig nachvollziehen, nachdem ich die Artikel von ihm in der WELT kenne. Es ist nicht überliefert, wie es dazu kam, dass er in dieser wichtigen Zeitung über Film und Musik schreiben durfte. Eventuell hat ihn der berühmte Friedrich Luft empfohlen, auf Anregung von RIAS-Programmdirektor Herbert Kundler, der Graves´ Laufbahn anfangs stets förderte. Über alles andere in Sachen Barry Graves, dessen 30. Todestag im Spätsommer 2024 ansteht, wird noch an anderer Stelle ausführlich zu reden sein.

Wenn ich mich nicht irre, hihi, ist das 2008er Rock-Lexikon auch das Letzte seiner Art, das gedruckt in Deutschland auf den Buchmarkt kam. Ein großartiger Bogen also, der da geschlagen wurde. Auch wenn es wehmütig stimmt, dass da nichts neues oder gar vergleichbares nachkommen wird.

Für den oben erwähnten Beitrag für die 2023er Jahrestagung des Lippmann + Rau-Musikarchiv hat sich Siegfried Schmidt-Joos als klugen Abschluss den letzten Absatz von Barry Graves aus dessen „Einführung 2“ für „mein“ Rock-Lexikon (also das von 1990) gewählt. Von wegen: was „die wichtigste aller Geschichten im Rock“ sei.

Ich habe mir für das Ende dieses Textes von radioeins Intro und Finale aus einer Anything goes-Sendung herausgepickt. Siegfried Schmidt-Joos war dort im September 2008 zu Gast – Anlass des Studiobesuchs war natürlich das Erscheinen des fünften Rock-Lexikons. Anything goes gab es bereits in den 1980er Jahren auf SFB2 zu hören. Der (von mir sehr geschätzte) Moderator Wolfgang Kraesze kannte also nicht nur selbst auch Barry Graves als Kollegen, er hat mit ihm zudem die Idee gemeinsam, sich für die Radioarbeit ein Pseudonym zuzulegen. So ging er ab 1990 zuerst als „Laser 4“ (u.a. im The Big Beat von Radio 4U über den Sender), später nannte er sich „Freddie Dreamer“. Vor fünfzehn Jahren jedenfalls führte er Siegfried Schmidt-Joos mit diesen Worten ein:

Wer sich nicht darauf besinnt, wo Dinge herkommen, der kann mit dem Heute auch nicht viel anfangen. Also insofern ist es ganz schön, wenn es ab und zu Menschen gibt in unserem Lande, die sich erinnern und uns daran erinnern, wie die Musik, die wir so lieben, vielleicht entstanden ist, wie sie sich zusammensetzt, wer sich mit wem zusammen baut und wer eigentlich was zu sagen hat. … Siegfried Schmidt-Joos brachte zusammen mit Barry Graves 1973 etwas auf den Markt, wo die Leute damals staunten. …

Die zweistündige Sendung endet dann mit folgendem wunderbaren Dialog, der wie ich finde, auch ein wenig den Geist von Barry Graves atmet:

Lass uns doch zum Schluss eines klären: Das Rock-Lexikon – wir müssen nicht weiter drüber reden. Das kommt von meiner Stelle: Kann ich Ihnen wärmstens empfehlen. Es kommen die Tage, in denen man sich wieder etwas schenken lässt. Und das kann man immer lesen! Und wenn wir vorhin gesagt haben, das sind wunderbare Einträge mit vielen kleinen Geschichten, dann haben Sie auch Spaß. Welcher Art von Musik Sie auch im Augenblick sich zugeneigt fühlen. Und worauf ich hinauswill, ist noch eine andere Sache: „radioeins – Nur für Erwachsene“. Was kommt für uns? Ein Hauch von Jugend? Oder gehen wir immer mehr in die Tradition, in die Altersweisheit? Was würdest du empfehlen?

[SSJ] Ich glaube, dass es gar keine Vergangenheit und Zukunft und so was gibt. Wir sind immer im Heute. Und wenn es in der Vergangenheit noch so viel zu entdecken gibt, wie wir entdeckt haben, als wir die Recherche für das Rock-Lexikon gemacht haben, dann sind wir sehr gut aufgehoben, auch die Tradition als Zukunft zu betrachten.

Ein weises Wort … von einem Mann, der 50 Jahre lang sich mit dieser Musik beschäftigt hat, die wir uns immer noch tagtäglich um die Ohren hauen und sagen „Wie konntest du nur DAS spielen?“ Oder „Findest du DAS etwa gut?“ Oder „Was soll denn DARAN spannend sein?“ Und wenn wir sagen „Naja, aber ich krieg doch da ne Gänsehaut“ – „Naja, DEINE Haut möchte ich nicht haben.“ Also wir streiten uns, egal ob für Erwachsene oder Jugendliche – diese Musik, die wir lieben. Und wenn Sie die Musik lieben, dann werden Sie das Rock-Lexikon … auf jeden Fall lieben, mögen und ihm ein kleines Plätzchen in Ihrem Regal einräumen. Egal, wenn Sie dann auch sonst den Tag im Internet verbringen. Sie kommen immer wieder reumütig auf die Zeilen zurück, denn so komprimiert kriegen Sie nicht mal die Links bei einer bekannten Band serviert. Da müssen Sie lange blättern in den Internetseiten und so können Sie das mit einer Flasche machen. Egal, welches Getränk: Ein bisschen wärmend am Ofen, unter Freunden sitzend hin und wieder die Sachen vorlesen. Mehr kann ich nicht sagen.

[SSJ] Manchmal kann man auch ein bisschen lachen…

 

London, im Herbst 2023