Es wirkt überraschend, dass bereits am 1. Dezember 1973 in der Frankfurter Rundschau das Rock-Lexikon vorgestellt wurde. Also noch einige Tage vor dem Artikel in der ZEIT. Ein Blick auf den Autoren des FR-Beitrages lässt die Überraschung verfliegen, denn dieser war Reginald Rudorf. Also der frühere „Mentor“ (Mitteldeutsche Zeitung) von Siegfried Schmidt-Joos. Beide kennen sich aus der Hallenser Jazz-Szene, die die DDR-Behörden so bedrohlich fanden, dass sie beide aus dem Lande trieben (mehr dazu im höchst lesenswerten Buch „Die Stasi swingt nicht: Ein Jazzfan im Kalten Krieg“ von Siegfried Schmidt-Joos). Der Wikipedia-Eintrag von Reginald Rudorf ist sehr dürftig. Hier ist sicher nicht der Platz, seine Vita angemessen darzulegen oder zu bewerten, daher soll das gar nicht versucht werden. Zum Zeitpunkt des Artikels übers Rock-Lexikon spielte das auch noch keine Rolle. Er schrieb bereits regelmäßig in der Frankfurter Rundschau und konnte daher wohl auch den Bericht in der dicken Samstagsausgabe hinten im Wochenendteil „Zeit und Bild“ auf der Seite „Freizeit-Magazin“ (hier ging es zudem um Basteleien mit Schmelzolan und Aquariumspflanzen) unter der Rubrik „FREIZEIT-BIBLIOTHEK“ unterbringen. Die Überschrift: Bibel für Fans.
Bitte sehr. Doktor John, The Night Tripper. Dahinter steckt der brave Bürgername Malcolm Rebennack, mit nickname ,Mac‘, ein weißer Studiomusiker, der singt, Klavier spielt, Gitarre wie Drums schlägt und als erster und einziger Voodoo-Rock-Hohepriester gilt. Er ist am 20. November 1941 in New Orleans geboren worden, mitten im Dunstkreis des Mississippi-Deltas, wo Schwarze Magie und Tischrücken zur Vorstellungswelt zählen. Seine Platten sind bei Atlantic erschienen, zusammen mit Mike Bloomfield auf CBS.
Über vierhundert solcher Angaben über die Akteure der Rockmusik auf 352 Seiten zu einem Preis von 7,80 Mark legt der Hamburger Rowohlt-Verlag als Teamwork der Autoren Siegfried Schmidt-Joos und Barry Graves am 15. Dezember dieses Jahres vor. Vorwort, Fachausdrücke, Literatur und Zeitschriften abgezogen, bleibt für jeden der aufgeschlüsselten Musiker eine gute dreiviertel Seite.
Dazu bietet das Rock Lexikon ein Paket von sechzig Langspielplatten an (mit einigen Doppelalben und dem Dreier-Album vom Woodstock-Festival), das den akustischen Anspruch erhebt, die stilrelevanten Aufnahmen der Rock-Story im wesentlichen zu repräsentieren. Bei der Zusammenstellung dieser Langspielplatten ist es den Autoren erstmals gelungen, sechs Plattenfirmen unter einen Projekt-Hut zu bringen. in diesem Sechzig-Platten-Paket rangiert WEA mit dreizehn LPs vor CBS mit zwölf und Electrola mit zehn. Polydor und Teldec stellten je neun Langspielplatten zur Verfügung, Bellaphon sieben.
Das Vorwort von Siegfried Schmidt-Joos kündigt an, was seine historisierende Einführung in das Rock Lexikon einhält: Es wird der Bogen einer Story dargestellt ohne den Rock zu rubrizieren. Dort wo Stilbegriffe als Termini technici unvermeidlich sind, wird derlei Unvermeidlichkeit in den Fluß der Stilgeschichte so eingebettet, daß diese Begriffe erklärend und nicht aufgesattelt wirken. Wie auch im alphabetischen Registerteil der Namen und Gruppen, wird die Slangsprache des Jargon du Pop tunlichst vermieden — aber es wird auch nicht versucht, die turbulente Geschichte dieser Musik in gestelztes Feuilleton zu zwängen. Die griffigsten Formulierungen aus der Weltpresse und Fachliteratur werden jeweils dann bemüht, wenn sie den Meinungsunterschied oder die Treffsicherheit eines Urteils darstellen. Wesentlich ist bei dieser ausführlichen Kurzbehandlung der Rock History die Berücksichtigung der soziologischen wie psychologischen Zusammenhänge, in die der reine Ablauf der Daten und Namen gestellt wird, ohne wiederum versucht zu sein, diese Geschichte in das vulgär-soziologische Korsett modischer Rock-Deutungen zu stecken. Diese Arbeitsweise bezieht deshalb auch pointiert die Beobachtung und Analyse der wichtigsten kommerziellen Vorgänge und Auswirkungen der Popgeschichte ein: Bedeutung und Problematik der allgegenwärtigen Musikindustrie.
Die Zusammenstellung der wichtigsten Fachausdrücke und Namen von institutionalisierten Einrichtungen der Rockszenerie von AM Radio bis zu medialen Fachausdrücken wie Playback ist auch nach der dritten Lektüre narrensicher. Wer hrancheninterne Bezeichnungen oder ständig repetierte Formulierungen aus dem Rock-Rotwelsch übersetzt haben will, müßte sehr in Nachbargebiete abschweifen, wenn er hier nicht ausführlich bedient werden kann. Natürlich kann in einer solchen Arbeit nicht das Vokabular einer ganzen Musikersprache versammelt werden, aber die verbalen Riechmarken der Szene von Acid über Altamont, Baroque Rock, Bluegrass, Bubble Gum, Crawdaddy, Raga Rock, Ragtime bis zu Surf, Underground und Wah Wah Pedal sind komplett vorhanden. Vielleicht hätten die Verfasser die ebenfalls vollständig angezeigten Firmen und Labels in einer eigenen Spalte übersichtshalber zusammenfassen sollen — von ABC-Records bis Warmer/Reprise. Das angeschlossene Verzeichnis der Literatur und Fach- wie Fanzeitschriften ist eherne Arbeitsgrundlage für Beobachter der Szenerie.
Der Zeitpunkt des Rock Lexikons ist treffend. Denn: die hinter uns liegende Pop-Geschichte eines guten Dezenniums bietet gerade nach den Erfahrungswerten der sich modisch rasch wandelnden Variationen der Rock-Szene genügend Struktur und Stilgeronnenes, die unverändert bleiben und somit Grundlage für weitere Ergänzungen abgeben, die von den Autoren sicherlich von Jahr zu Jahr vorgenommen werden müssen. Nach dem .“Jazz-Führer“ bei Reclam, der 1970 viel zu spät erschien, ist das Rock Lexikon das erste und auch einzige Arbeitshandbuch für alle, die sich — aus welchem Grund auch immer — anhand eines Nachschlagewerkes exakt zu informieren gedenken.
Wohl mit Abstand der unkritischste Text über das Rock-Lexikon. Aber nicht uninteressant, welche Schwerpunkte Rudorf setzte und was er besonders ausführlich erläuterte. Auch die Überschrift war nicht übertrieben, denn mindestens eine Leserin ist bekannt, für die das genau so galt. Das weiß man ausgerechnet aus der Barry Graves-Ausgabe der radioeins-Sendereihe „Die Rückkehr der Radiolegenden“, ausgestrahlt am 6. Februar 2013. Anja Caspary outete sich darin u.a. als Rock-Lexikon-Fan. Das mit der „Bibel“ erzählte sie Peter Radszuhn (1954-2014), dessen Aufgabe als „radioeins-Musikchef“ sie kurz darauf übernahm, bis sie 2023 auf den Posten einer „Crossmedial arbeitenden Popkultur-Korrespondentin“ wechselte.
QUELLE: Frankfurter Rundschau, 1.12.1973, „Zeit und Bild“ S. III