Franz Schöler schrieb Anfang des Jahres 1974 öfters für die Westdeutsche Allgemeine, kurz WAZ. Anfang Januar erschien z.B. eine ganze Seite, auf der er das Buch Rock Dreams von Guy Peellaert vorstellte. Die deutsche Ausgabe der Rock Dreams wurde als Zeitschriftenserie veröffentlicht, für die Ingeborg Schober einen lexikalischen Teil ergänzte. Während Schöler die Bilder von Peellaert lobte, lösten diese meist negative Reaktionen aus. Übrigens hat Barry Graves zehn Jahre später ein Peellaert-Motiv als Cover seines Elvis-Buches gewählt.
In der dicken WAZ-Samstagsausgabe vom 26. Januar 1974 geht es auf der Seite „Junge Welt“ um das Rock-Lexikon. Die zwei Beiträge von Franz Schöler umrahmen einen Bericht über einen Jungmanager namens Markus Figgen, der das zweitägige „German Pop Meeting“ in der Essener Grugahalle organisierte. Schölers Hauptartikel hat den Titel Rockmusik von A-Z und die Subline Nützliches Lexikon für Laien und Spezialisten. Der zweispaltige Fließtext wird durch ein Foto von Elvis Presley unterbrochen, mit der Fotozeile »Eines der besten Kapitel des „Rock-Lexikons“ beschäftigt sich mit dem Aufstieg und unaufhaltsamen qualitativen Niedergang von „King“ Elvis Presley«.
Einen lexikalischen Überblick über die wichtigsten Interpreten und Entwicklungen in der Rockmusik der letzten zwanzig Jahre, der für Laien, Fans und Spezialisten gleichermaßen informativ und nützlich sein sollte, haben bisher allenfalls einige englischsprachige Pop-Historiker versucht. Und selbst diese Versuche waren von wechselndem Erfolg begleitet.
Schließlich beginnen die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens schon mit der korrekten Datierung der ersten wirklichen Rock-’n‘-Roll-Platte – Fats Dominos „The Fat Man“? Die von Alan Freed ab 1951 so bezeichneten Singles? Oder den von Bill Haley und Elvis Presley ab 1954 aufgenommenen Platten? – Und enden noch lange nicht bei der stilistischen Abgrenzung dessen, was man noch zur Rockmusik zählen kann.
Den umfangreichsten und am besten dokumentierten Band legten kürzlich Siegfried Schmidt-Joos und Barry Graves mit ihrem „Rock-Lexikon“ vor (rororo-Sachbuch-Paperback Nr.6177, 352 Seiten, 7,80 DM). Dem sehr gescheiten einleitenden Teil, der in essayistischer Form einen Abriß der gesamten Popmusik-Historie bietet, folgt ein A-Z der wichtigeren und bedeutendsten Rock-Interpreten, das deren Karrieren und Leistungen knapp und sachlich, oft durch Zitate erhärtet, skizziert. Diskografien und ein brauchbares Sachwortverzeichnis, das häufig benutzte Fremdwörter erläutert, runden den Band ab. Mit Hilfe des Namensregisters kann der Leser durchaus auch historische Perspektiven verfolgen.
Manchmal zu neutral
Leider sind die Autoren in ihrem letzten Urteil manchmal zu „neutral“; ein wenig mehr subjektive Dezidiertheit hätte dem rockbegeisterten Leser die Qual der Wahl im Plattengeschäft erleichtern können. Aber abgesehen von ihrer Vorliebe für Jazz-Rock geben sich Graves und Schmidt-Joos lieber historisch-distanziert. Auch in den Diskografien werden die Platten unterschieds- und wertungslos aufgeführt. Aus Kalkulationsgründen hat der Verlag den Umfang des Buches beschränkt, so daß die Autoren notgedrungen auf manchen Musiker verzichten mußten, der ihrer Meinung nach auch in dies Lexikon gehört hätte. Daß allerdings wichtige neue Gruppen wie etwas Stealers Wheel oder Little Feat und Copperheard fehlen, daß selbst die Diskografien der Beatles, Stones und Dylan unvollständig bzw. sachlich unkorrekt sind, ist weniger verzeihlich. Und eine Behauptung wie die, daß die Who „dem harten, vulgären schonungslosen Rock-´n´-Roll-Stil der englischen Arbeiterjugend … kaum etwas hinzugefügt“ hätten, ist schlicht falsch. In den zehn Jahren seines Bestehens hat sich dies Quartett stärker entwickelt als Chuck Berry in zwanzig.
Aber die Autoren sind laut Vorwort durchaus zu sachlichen Korrekturen bereit und fordern die Leser auf, Verbesserungsvorschläge zu machen. Bei der Überfülle des zu sichtenden (bzw. zu hörenden) Materials waren kleinere Flüchtigkeitsfehler sowieso kaum vermeidbar.
Solchen kritischen Einwänden zum Trost ist dies „Rock-Lexikon“ die bisher lesbarste und am gründlichsten recherchierte Übersicht über die Rockmusik, die es bisher in irgendeiner Sprache gibt. Das allein schon macht es für alle am Rock ’n‘ Roll kritisch Interessierten unentbehrlich.
Diese Rezension in einer bundesdeutschen Lokalzeitung hat bis zur letzten Ausgabe des Rock-Lexikons 2008 überlebt, denn auf deren Rückseite wird sie immer noch zitiert. Little Feat und selbst Stealers Wheel haben es dann gleich in die 1975er Neuauflage geschafft; während der Verweis auf Copperheard belegt, wie sinnvoll und konsequent das Konzept von Schmidt-Joos und Graves von Beginn an war. Denn diese von Schöler vermisste und heute wohl nur noch absoluten Insidern bekannte Band hat ihr zweites Album nie veröffentlicht. Auch in der WAZ ließ es sich Franz Schöler nicht nehmen, die parallel stattfindende Aktion der Plattenfirmen zu kritisieren. Die Spalte trägt die Überschrift Meilensteine?.
Die Idee, parallel zum „Rock-Lexikon“ eine sachkundig kommentierte Diskothek der epochemachenden Rock-Platten zusammenzustellen, war gewiß nicht schlecht. Aber die Umstände, unter denen diese von der Industrie als „60 Meilenstein-LPs zum Buch“ angepriesenen Platten erscheinen, rückten das ganze Unternehmen ins Zwielicht.
„Zum erstenmal eine Rock-Gesamt-Dokumentation über Stil- und Firmengrenzen hinweg“, erklärt die Werbung der sechs namhaften und führenden deutschen Plattenfirmen. Warum allerdings ein Lehrling oder Gymnasiast, der Nachholbedarf in puncto Rock-Historie hat und auch womöglich auf diese Auswahl blindlings vertraut, sein sauer verdientes oder erspartes Geld für den vollen Ladenpreis hinlegen soll, nachdem diese Platten längst — und oft in Millionenauflagen — ihr Geld eingespielt haben, erklärt die Werbung nicht. Die meisten dieser Platten konnte man bisher nämlich als preislich stark reduziertes Sonderangebot im Laden erwerben. Und in anderen Zusammenstellungen sind manche der Platten oft weitaus preisgünstiger erhältlich.
Vorsicht
Daß manche wirklich wichtige und für ihre Zeit revolutionäre Platte endlich wieder zu kaufen ist, nachdem sie jahrelang aus den Katalogen der Firmen gestrichen war, ist gewiß ein Verdienst des Herausgebers Schmidt-Joos. Aber so manch verstaubter und zu Recht in Vergessenheit geratener Bestseller vergangener Zeiten wird hier — offenbar aufgrund von Kompromissen mit den Firmen — neu aufgelegt.
Vorsicht ist also geboten bei der Auswahl aus dieser mit klotzigen Superlativ-Sprüchen arbeitenden „Meilenstein-Diskothek“. Denn wie schon der Herausgeber in der Zeitschrift „Musikmarkt“ kürzlich sehr richtig bemerkte, gibt es viel mehr wichtige Platten, die nicht in dieser Serie auftauchen. Man hat sich auf Seiten der Plattenfirmen durchaus nicht immer an die Vereinbarungen gehalten, die er zuerst gesichert glaubte.
QUELLE: Westdeutsche Allgemeine | WAZ; 26.1.1974, S. 107 („Junge Welt“-Seite)