Im Heft 5/Mai 1974 erschien in der laut Untertitel „Zeitschrift für Theorie und Praxis der Musikerziehung“ in der Rubrik „Bücher“ eine Besprechung des Rock-Lexikon. Autor war Hermann Rauhe. Sein Professorentitel wurde in der MUSIK UND BILDUNG nicht erwähnt, wer mehr über diesen bedeutenden Musikwissenschaftler erfahren möchte, startet am besten mit seinem Wikipedia-Eintrag. In der Gemeinde Wanna (Landkreis Cuxhaven) trägt die Grundschule seit 2010 den Namen „Prof.-Hermann-Rauhe-Schule“. Jährlich findet dort das musikalische Schulfest „Hermann-Rauhe-Tag“ statt. Das Rock-Lexikon kann also stolz sein, dass der Professor sich so intensiv mit ihm beschäftigt hat. Angesichts des hohen Alters des Rezensenten wurde davon abgesehen, ihn zu kontaktieren und zu fragen, ob er sich an seine Rezension erinnert und ob er heute noch eine Meinung zum Rock-Lexikon hat. Hier folgt nun seine Besprechung von 1974:
Das Rock-Lexikon hält mehr, als es seinem Titel nach verspricht: Es erfaßt das Gesamtspektrum der Popmusik der letzten zwanzig Jahre; denn unter „Rock“ verstehen die Autoren „jegliche populäre Musik mit Wurzeln im afro-amerikanischen Blues und/oder in Folksong und Country and Western“.
Die Verfasser, von Berufs wegen hervorragende Kenner der nicht ganz einfachen Materie, sind sich der Schwierigkeit ihres Unternehmens voll bewußt: Sie haben das Lexikon nach besten Kräften gestaltet in der richtigen Erkenntnis, daß „eine lückenlose, total objektive Popmusik-Enzyklopädie … ein unrealisierbarer Traum“ ist und daß „ein akzeptabler Annäherungswert“ das Optimum dessen darstellt, was angesichts der fast unübersehbaren Vielfalt und Vielschichtigkeit des Phänomens Popmusik heute überhaupt geleistet werden kann.
Von besonderem Wert für den Musikerzieher ist die vorangestellte Einführung von Siegfried Schmidt-Joos, der versucht, ausgehend von der Frage „Was ist Rock?“, eine sehr differenzierte Entwicklung der Popmusik bis in ihre feinen Verästelungen hinein detailliert aufzuzeigen, wobei er neben musikalischen auch soziologische, psychologische, technologische und kulturkritische Aspekte einbezieht, um die Entwicklungslinien, verschiedenartigen Ausprägungen und rasch sich wandelnden Stilrichtungen der Popmusik vor dem Hintergrund der sie hervorbringenden Ursachen, Gründe, Motive und Bedingungszusammenhänge darzustellen und zu interpretieren.
Das Lexikon übertrifft sowohl die 1969 erschienene amerikanische „Rock Encyclopedia“ von Lillian Roxon. der es an exakten Daten und fundierten Einschätzungen der verschiedenen Rock-Interpreten fehlt, als auch das 1971 in England erschienene „A-Z of Rock ’n‘ Roll“ von Graham Wood, das nur einen schmalen Ausschnitt aus dem Popmusikspektrum lexikalisch erfaßt, durch die Breite, Vollständigkeit und Exaktheit des systematisch zusammengestellten Materials, das sich nicht auf bloße positivistische Beschreibung beschränkt, sondern sich darüber hinaus zu fundierten, mit griffigen Zitaten belegten Einschätzungen und abgesicherten Beurteilungen der vielfältigen Popmusik-Richtungen und ihrer Interpreten bekennt. Was an Materie geboten wird, stützt sich auf zuverlässige Informationen und kann als sachlich stichhaltig angesehen werden. 200 der wichtigsten Stilbegriffe, Fachtermini und international gebräuchlichen Slangausdrücke aus dem anglo-amerikanischen Popmusik-Jargon sind in einem Sachstichwörterverzeichnis kurz, allgemein verständlich, gut lesbar und dennoch überwiegend wissenschaftlich präzise erläutert.
Den Hauptteil bildet die 280 Seiten umfassende Biographie, in der über 400 stilbildende Gruppen und Solisten in ausführlichen, alphabetisch angeordneten Einzelartikeln gewissenhaft porträtiert und treffend charakterisiert sind. Abgerundet werden diese Monographien durch — oft kontroverse — Zitate der authentischsten und fundiertesten Kritikerurteile, wobei die Autoren sich eigenen Wertungen keineswegs entziehen. Diese lassen überwiegend gediegene Sachkenntnis und durch große Erfahrung und langjährige intensive Beschäftigung mit der Materie gewonnene Sicherheit und Zuverlässigkeit des Urteils erkennen.
Wer das Register erschöpfend zu benutzen vermag, kann sich anhand des Lexikons über mehr als 5000 Popmusiker und ihr Wirken informieren: Das ist eine erstaunliche Vielfalt, die auf knapp 550 Seiten angeboten wird.
Von großem Wert sind die den Musikerbiographien jeweils angefügten Diskographien mit Erscheinungsjahr der Platten. Auch das umfassende Literaturverzeichnis ist sehr hilfreich. Systematisch nach Stilrichtungen geordnet, informiert es u a. über die wichtigste Literatur der Bereiche Folksong, Country und Western, Blues, Soul, Gospel und Rock.
Das Rock-Lexikon dürfte eine wesentliche Hilfe für jeden Schulmusiker sein, der sich mit dem Problem Popmusik im Unterricht ernsthaft beschäftigt. Es vermag ihm jenen Informationsvorsprung vor den Popfans unter seinen Schülern zu geben, an dem es ihm bisher verständlicherweise oft mangelte — ein Tatbestand, der ihn vielfach davon abhielt, sich an diese Materie heranzuwagen.Insofern ist die Tatsache, daß das Sachstichwörterverzeichnis (28 Seiten) nur ein Zehntel so lang ist wie die Biographie, zumindest für den Pädagogen kein unbedingter Nachteil, denn ihm fehlt es mehr an biographisch-diskographischer Information als an phänomenologisch-strukturellen Kenntnissen, die im Rahmen der Popmusikbehandlung ohnehin nur einen Teilbereich ausmachen.
Von seltenen Ungenauigkeiten (wie z. B. der fahrlässigen Schreibweise des Autors Dieter Baacke als „Helmut Baake“ auf S. 11) her sollte man nicht voreilig auf mangelnde Akribie und Zuverlässigkeit des überwiegend sauber und exakt angelegten Rock-Lexikons schließen, das in der Tat einen höchst akzeptablen „Annäherungswert“ an eine lückenlose, sachlich fundierte Popmusik-Enzyklopädie aufweist.
Dass es sich hier um eine pädagogische Fachzeitschrift handelt, sollte nach dem Lesen der Rezension klar geworden sein. Hervorzuheben ist der Tadel am Schluss bezüglich des Schreibfehlers des Autorennamens des damals viel beachteten Buches Beat, die sprachlose Opposition. Dieses enthielt Kapitelnamen wie „Beat – Krise von Kultur und Erziehung?“, „Vom Gestammel zum Text“ oder „Beat als symbolische Expression einer erosbestimmten Gegenwelt“. Diese musiksoziologische Studie heutzutage nachzulesen und sie der TikTok-Generation gegenüber zu stellen, ist sehr lohnenswert und erkenntnisreich. Bleibt als Abschluss hier nur der Hinweis auf die „fahrlässige“ Falschangabe beim Buchpreis des Rock-Lexikons. Man stelle sich die Diskussionen mit dem Verkäufer vor, der eine Mark mehr forderte als erwartet.