Man muss das Wochenmagazin in den Händen halten, um es zu glauben: Anfang der 1970er Jahre war eine stern-Ausgabe mehr als 200 Seiten dick. Chefredakteur war weiterhin sein Gründer Henri Nannen, die verkaufte Auflage muss weit im Millionenbereich gelegen haben. Ende September 1973 wurden im stern über mehrere Seiten zwei Publikationen zur Rockmusik vorgestellt, darunter das im Dezember erscheinende Rock-Lexikon. Dass die es betreffenden Infos mit heißer Nadel gestrickt waren, deutet die Angabe des Buchpreises an, der letztendlich noch um eine Mark erhöht wurde. Die Überschrift lautete „Träume und Tatsachen“ und die Subheadline „Zwei Verlage wetteifern um die farbigste Geschichte der Rockmusik und ihrer Stars“. Bebildert war der Artikel mit einer großen Peellaert-Zeichnung von Big Joe Turner und Fotos von Chuck Berry, Janis Joplin und Frank Zappa (Bildunterschrift: Helden der Rock-Geschichte: Chuck Berry, seit zwanzig Jahren im Geschäft; Bluessängerin Janis Joplin, gestorben an Rauschgift; Bürgerschreck Frank Zappa).
Draußen vor dem Billardsalon lehnte ich in der Sonne, kümmerte mich um meine eigenen Angelegenheiten und kämmte mein Haar, als dieser Kerl kam und mir dreckige Namen gab. Meine langen Haare, was ich anhatte, wie ich meine Lippen schürzte — das kotze ihn an, sagte er. Er starrte mir direkt in die Augen und spuckte dann auf meine blauen Wildlederschuhe. Genau da, auf dem Pflaster, mit einem Fuß im Rinnstein, habe ich ihn in kleine Stücke zerlegt.“
Der englische Journalist Nik Cohn läßt den Rock’n’Roll-Star Elvis Presley diese Geschichte er-zählen. In Wirklichkeit hat sie sich freilich nie ereignet. Aber das Lebensgefühl der Rock’n’Roll-Musiker und ihrer Fans, ihre Unsicherheit und aggressiven Wunschträume sind mit der erfundenen Episode gleichwohl präzise beschrieben.
Bill Haley, dem Sänger des ersten großen Rock’n’Roll-Hits “Rock Around The Clock“, legt der Engländer folgende Sätze in den Mund: „Die Leute fragen mich: ,Bill, wie kannst du sowas machen? Du, ein Musiker, ein erwachsener Mann, wie kannst du diesen Dreck spielen?‘ ,Hör mal‘, sage ich dann, ,halt dich zurück! Ich bin immerhin dreißig Jahre alt, habe eine Frau und fünf Kinder, und ich habe zehn Jahre lang gestrampelt, um groß rauszukommen. Jetzt habe ich es endlich geschafft, und da werde ich es nicht einfach wieder so sausen lassen, so für nichts und wieder nichts. Da grinse ich lieber und grinse und grinse. bis sie die Lichter ausmachen!'“
Cohns atmosphärisch treffende Schilderungen und Phantasien aus der fast zwanzigjährigen Geschichte der Rockmusik tragen den Titel „Rock Dreams“. Die Träume werden in deutscher Sprache vom Münchner Walter Schünemann-Verlag auf den Markt gebracht — in insgesamt zehn Heften zu je drei Mark in vierzehntägiger Folge bis Januar nächsten Jahres. Jeder Cohn-Beitrag wird durch eine Farbzeichnung des Belgiers Guy Peellaert ergänzt. Er sichtete für seine kunstvolle, witzige und stimmungsechte Bilderserie über zwei Jahre lang Tausende von Originalfotos.
Die „phantastische Geschichte des Rock“ (Verlagswerbung) enthält als drittes Element einen alphabetisch fortlaufenden Lexikon-Teil. Darin will die Münchner Journalistin Ingeborg Schober mit insgesamt 600 Stichwörtern über die wichtigsten Namen, Stile und Begriffe der Rockmusik informieren.
Das allerdings ist zwei Berufskollegen besser und billiger gelungen. In etwa einem Monat will der Rowohlt Verlag für nur 6,80 Mark das „Rock Lexikon“ des Hamburger Journalisten Siegfried Schmidt-Joos und seines Berliner Co-Autoren Barry Graves herausbringen. Während die Schober-Daten häufig nicht stimmen (Beispiele im ersten Heft: Die Beatles verkauften nicht 300 Millionen Langspielplatten, sondern so viele Singles und LPs zusammen. Paul Ankas Hit „Diana“ erschien nicht 1958, sondern ein Jahr früher. Ein „Newport-Pop-Festival“ hat es nie gegeben, nur ein gleichnamiges Jazzfestival), haben die Konkurrenten mit wissenschaftlicher Gründlichkeit gearbeitet.
Das Ergebnis im Taschenbuchformat ist die bisher umfassendste und genaueste Darstellung der Rockmusik, ihrer Künstler, Geschäftemacher, Stile, Ereignisse und Sprache. Von allen erwähnten Musikern und Gruppen (500 Namensstichwörter) werden Werdegang, Einflüsse, Bedeutung und wichtige Mitspieler genannt. Das Verzeichnis der Platten unter jedem Stichwort enthält nicht nur in Deutschland gepreßte Scheiben, sondern auch Importe. Eine siebenseitige Geschichte der Rockmusik bringt bisher unbekannte Einzelheiten zur Entstehung des Rock ’n‘ Roll — etwa die Schilderung eines mit Terrormethoden ausgetragenen Konkurrenzkampfes zwischen zwei verfeindeten amerikanischen Urheberrechtsgesellschaften. In Extra-Teilen werden Fachzeitschriften und -bücher zum Thema „Rock“ empfohlen.
Der Autor Schmidt-Joos stellte auch eine „Rock-Lexikon-Diskothek“ zusammen: 60 für die verschiedenen Stile repräsentative, zum Teil schon vergriffene Langspielplatten, die jetzt von den beteiligten Plattenfirmen als Serie angeboten werden.
Bei soviel Gründlichkeit ist den Autoren auch nicht entgangen, daß die große Zeit des Rock vorerst vorbei ist. „Ein neuer Rock-Messias ist noch nicht in Sicht“. bedauert Schmidt-Joos. Ganz aufgeben mag er die Hoffnung aber nicht. Er tröstet: „The Beat Goes On.“
Die Illustrationen von Guy Peellaert in den Rock Dreams kommen hier also deutlich besser weg, als in anderen Rezensionen. Zum Rock-Lexikon gibt es überhaupt keine negative Bemerkung. Autor des Artikels war stern-Redakteur Andreas Odenwald. Er stieg in den 1980er Jahren zum stellvertretenden BUNTE-Chefredakteur auf und wechselte in gleicher Funktion zum PLAYBOY, bei dem er später auch Chefredakteur wurde. Dass er zu der „Sonnendeck“-Generation des goldenen Print-Zeitalters zu rechnen ist, lassen die Titel seiner Bücher erahnen: „Sylt: Champagnerluft und Nordseerausch“, „Meine Sekretärin ist genial, Ihre auch?“ oder „Lexikon der Lebensart: Stilvoll leben und genießen mit Geist und Geschmack“. Laut Internetsuche war er zudem „Pressechef eines Theaters“ und lebt jetzt als freier Autor „abwechselnd in München und auf Sylt“.
QUELLE: stern 39/1973, S. 221-224